Der Mann

An einem verregneten Sonntag kommt ein Mann in ein Café. Er setzt sich an einen Tisch am Fenster. Als die Kellnerin kommt, bestellt er ein Bier und das Tagesgericht. Es ist Mittag. Er hat Hunger. Er hat den ganzen Tag noch nichts gegessen. Nicht einmal einen Kaffee hat er am Morgen gehabt.

Er sieht aus dem Fenster. Draußen laufen Menschen mit Regenschirmen vorbei. Nur wenig ist los. Eine Straßenbahn hält an der Haltestelle gegenüber. Eine Frau steigt aus mit einem großen schwarzen Hund.

Im Café sind noch drei weitere Tische besetzt. Am Tisch neben ihm sitzt eine Frau. Sie rührt abwesend in ihrer Tasse. Sie weint. Holt ein Taschentuch aus dem Ärmel ihres Pullis und putzt sich die Nase. Direkt neben dem Tresen sitzen ein Mann und eine jüngere Frau an einem großen Tisch nebeneinander auf einem Sofa. Sie schauen gemeinsam auf ein Notebook. Hin und wieder lachen sie.

Ein Mädchen sitzt an einem kleinen Tisch in der hinteren Ecke des Cafés. Der Tisch quillt über mit Büchern und Schreibblöcken. Sie telefoniert. Sie redet sehr leise und sehr schnell und hält eine Hand schützend um das Handy.
Die Tür geht auf. Die Frau und der Hund kommen herein. Der Hund schüttelt sich. Die Frau stellt einen Regenschirm in einen Ständer. Sie geht zum Tresen, wo die Kellnerin auf einem Hocker sitzt und eine Zeitung liest. Sie reden kurz, dann setzt die Frau sich an einen Tisch mitten im Raum. Der Hund legt sich darunter. Die Kellnerin bringt einen Kaffee und eine Zeitung. Dann geht sie in die Küche.

Mit einem großen Teller dampfender Spaghetti kommt sie wieder heraus und bringt sie dem Mann am Fenster. Er bedankt sich. Obwohl es die erste Mahlzeit an diesem Tag ist, bekommt er kaum einen Bissen herunter. Er zwingt sich, weiter zu essen. Nicht auszudenken, wenn er auch noch einen Schwächeanfall bekäme. Die ganze Nacht ist er in dieser riesigen fremden Stadt herumgelaufen. Er hat sich verfahren gehabt, dann einfach irgendwo geparkt und sich ein Taxi genommen, um rechtzeitig zu seinem Termin zu kommen. Jetzt weiß er nicht mehr, wo er sein Auto abgestellt hat.

Er versucht seine Fahrtroute zu rekonstruieren. Welche Autobahnabfahrt hat er genommen? Er kann sich nicht erinnern. Er ist gestresst gewesen. Von der langen Fahrt, von dem Stau, in dem er Stunden festgesessen hat, und weil er Angst gehabt hat, seinen Termin zu verpassen. Er lacht auf. Ein kurzes, gequältes Lachen über seine Dämlichkeit. Wie kann man sein Auto verlieren? Wie blöd kann man sein? Er muss das Ganze systematisch angehen.
Aber wie?

Das einzige, was er in dieser Stadt kennt, ist das Haus, in dem gestern das Treffen stattgefunden hat. Er hat dem Taxifahrer die Adresse genannt. Er ist 20 Minuten gefahren. Nach dem Termin hat er das Haus verlassen, ist wieder in ein Taxi gestiegen – und hat nicht gewusst, wohin er wollte. Eine Weile ist er mit dem Taxi durch die Stadt gefahren, in der Hoffnung, sich zu erinnern, irgendetwas wiederzuerkennen. Vergeblich. Es ist bereits dunkel gewesen, spät am Abend, als das Treffen beendet war. Er hat gedachte, er würde sich schon erinnern, sobald es wieder hell werden würde. Er hat das Taxi verlassen, hat den Fahrer bezahlt, mit dem letzten Bargeld, das er dabei gehabt hat, und ist zu einem Geldautomaten gegangen.

Und dann ist er ziellos durch die Stadt gestreift. Mal hierhin, mal dorthin. Eigentlich hätte er da schon längst auf dem Rückweg sein sollen. Mit seinem Auto auf der Autobahn.

Eine Weile hat er auf einer Bank im Park gesessen, bis es ihm unheimlich wurde. Zufällig ist er am Bahnhof vorbei gekommen, wo er sich in einem Zeitungskiosk einen Stadtplan gekauft hat. Er hat den Plan in der Wartehalle studiert, ohne Erfolg. Auf dem unbequemen Plastiksitz ist er eingenickt. Hat geschlafen, bis sich zwei Mädchen neben ihn gesetzt haben, von deren Gequassel er geweckt worden ist. Er ist zur Toilette gegangen. Hat sich die Hände gewaschen, sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt. Hat sich mit müden Augen im Spiegel angesehen. Warum hat er sich eigentlich kein Hotelzimmer genommen? Der Gedanke ist ihm erst in diesem Moment gekommen. Und da, kurz vor Morgengrauen, hätte es sich nicht mehr gelohnt.

Er hat den Bahnhof verlassen. Ist weiter durch die Straßen gelaufen. Langsam ist es hell geworden. Doch das hat nichts geändert. Nichts ist ihm bekannt vorgekommen. Er hat nicht gewusst, wo er ist oder wo er hätte hingehen sollen. Er hat immer wieder versucht sich zu erinnern. An markante Punkte. Häuser, Geschäfte, irgendetwas. Doch er ist so in Eile gewesen, dass er sich überhaupt nicht umgesehen hat. War es ein Wohngebiet gewesen? Ein Büroviertel? Ein Gewerbegebiet? Er hat keine Ahnung.

Sollte er zur Polizei gehen?

Er hat noch einmal die Karte aus seiner Tasche geholt, die Straße gesucht, wo das Treffen gewesen ist. Wie weit kommt man in 20 Minuten mit dem Auto von dort weg? Sollte er noch einmal dorthin zurückkehren und von vorne beginnen? Seine Füße haben ihm weh getan. Seit Stunden ist er nun schon durch die Stadt gerannt. Völlig sinnlos. Er hat mit einen Kugelschreiber eine Linie von besagter Straße quer über die Karte gemalt. 20 Minuten. Wie lang müsste die Linie sein? Nicht einmal das hat er schätzen können. Also anders. Er ist von der Autobahn auf diese Umgehungsstraße gefahren. Ist ziellos in eine Richtung gefahren.

Aber wo hat er die Umgehungsstraße wieder verlassen? War es im Norden oder im Süden der Stadt?

Es hat keinen Sinn.

Er hat die Karte wieder zusammen gefaltet, sie zurück in die Tasche gestopft. Eine Weile ist er noch unschlüssig stehen geblieben und dann in irgendeine Richtung weiter gegangen. Die Straßen haben sich langsam mit Menschen gefüllt und mit Autos. Es hat angefangen zu regnen. An einer Haltestelle ist er in einen Bus gestiegen. Ist bis zur Endstation gefahren, dort in einen anderen Bus gestiegen. Ist wieder ausgestiegen. Dann in eine Straßenbahn ein. Aber er hat keinen Anhaltspunkt gefunden. Unschlüssig ist er wieder irgendwo ausgestiegen. Ist unter dem Glasdach der Haltestelle stehen geblieben. Es hat noch immer geregnet. Er hat keinen Schirm gehabt. Gegenüber hat er ein Café gesehen. Er ist hinein gegangen, hat sich an einen Tisch am Fenster gesetzt.
Was sollte er jetzt tun? Die Polizei? An wen sollte er sich sonst wenden?

Er isst seine Spaghetti auf, bezahlt und geht hinaus. Jetzt auf der Suche nach einer Polizeiwache. Plötzlich bleibt er stehen, geht wieder zurück ins Café. Er fragt die Kellnerin nach dem Weg.

Die beste Idee des Tages.

Es ist nicht weit. Es regnet noch immer. Er geht schnell. Die Straße entlang. An der nächsten Kreuzung biegt er links ab. Das Schild an der Wache ist bereits zu sehen. Er geht noch schneller, rennt fast – und bleibt abrupt stehen.

Sein Auto!

Das hier ist sein Auto! Er sieht den Regenschirm auf der Ablage liegen und das selbstgemalte Bild seiner Tochter auf dem Rücksitz. Seine Frau! Er muss unbedingt bei seiner Frau anrufen!

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